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Warum ein Ladenhüter plötzlich Furore macht

Vor sieben Jahren hat die EU-Kommission vorgeschlagen, dass Airlines erst für Verspätungen von fünf Stunden haften müssen. Der Plan ist auf einmal topaktuell.

Deutschlands Marktführerin, die Lufthansa, kürzt ihren Flugplan kräftig zusammen. Jede zweite Verbindung wird gestrichen. Die Mitarbeiter werden in unbezahlten Urlaub geschickt, auch Kurzarbeit könnte der Konzern schon bald nutzen. Andere sind derweil noch stärker abgestürzt. Die britische Fluggesellschaft Flybe hat in der vergangenen Woche einen Insolvenzantrag gestellt.

Der Branchenverband IATA rechnet damit, dass die Fluggesellschaften weltweit in diesem Jahr wegen des Virus bis zu 113 Milliarden Dollar verlieren könnten. Das wäre schlimmer als die Sars-Epidemie 2003 und der Ausbruch des isländischen Vulkans Eyjafjallajökull 2010.

Bei Verspätungen kann man zwischen 250 und 600 Euro von den Airlines verlangen

Und darum geht es: Bisher können Passagiere in der EU von den Airlines Ausgleichszahlungen verlangen, wenn sie mit Verspätung am Ziel ankommen. Zwischen 250 und 600 Euro müssen die Fluggesellschaften zahlen, je nachdem ob es sich um einen Kurz-, Mittel- oder Langstreckenflug handelt.

ie Gesellschaften haften nicht, wenn Grund für die Verspätung ein außergewöhnlicher Umstand ist, für den sie nichts können, ein Unwetter etwa oder Vogelschlag. Welche Fälle das sind, wollen die Kroaten in einer Liste zur neuen EU-Fluggastrechteverordnung festlegen. Das ist sinnvoll, um Streitigkeiten zu klären. Etwa die, ob das Coronavirus ein solcher außergewöhnlicher Umstand ist. Verbraucherschützer meinen nein, die Airlines sehen das anders. Sie wollen Flüge in Zeiten von Corona ohne Entschädigung absagen können.

Gibt es Entschädigungen künftig erst nach fünf Stunden?

Der Kern der geplanten Reform ist jedoch die Frage, wie viel Geduld die Kunden für Störungen im Betriebsablauf mitbringen müssen. Bisher müssen Lufthansa, Easyjet und Co. zahlen, wenn ihre Passagiere mit einer Verspätung von drei Stunden am Ziel eintreffen. Diese Grenze soll künftig auf fünf Stunden heraufgesetzt werden. So schlagen es die Kroaten vor, so stand es in dem Entwurf, den die EU-Kommission 2013 lanciert hatte, und so haben es die schwarz-roten Koalitionäre in Deutschland 2018 in ihren Koalitionsvertrag geschrieben.

ür deutsche Reisende hätte das gravierende Folgen. Im vergangenen Jahr gab es rund 2500 Flüge ab deutschen Flughäfen, die drei Stunden oder mehr verspätet waren, hat das Internetflugportal Flightright ausgerechnet. Das geschätzte Entschädigungsvolumen lag bei rund 100 Millionen Euro.

Die Summe würde sich halbieren, wenn man die Verspätungsgrenze auf vier Stunden anhebt. Dann wären nämlich nur noch 1300 Flüge betroffen gewesen. Bei fünf Stunden wären es sogar nur noch 900 Abflüge, die potenziellen Entschädigungen würden auf 36 Millionen Euro und damit auf rund ein Drittel sinken.

Beschwerden über Fluggesellschaften nehmen zu

Dabei nimmt die Zahl der Verbraucher, die sich gegen die Airlines wehren, zu. Mehr als 21 700 Beschwerden gingen 2019 allein bei der Schlichtungsstelle für den öffentlichen Personenverkehr ein. Verglichen mit 2017 ist das ein Anstieg um 67 Prozent.

Verbraucherschützer sind daher gegen die geplante Änderung. „Wenn die Fluggastrechte gekippt werden, sinkt die Motivation der Airlines, ein zuverlässiges und pünktliches System anzubieten“, gibt Marion Jungbluth, Mobilitäts- und Reiseexpertin des Bundesverbands der Verbraucherzentralen (VZBV), zu bedenken. Die Fluggesellschaften würden sich bei Problemen weniger anstrengen, innerhalb kurzer Zeit ein Ersatzflugzeug aufzutreiben.

Die Luftfahrtbranche widerspricht dem entschieden. Die Auslegung der heutigen Verspätungsregelung sei kontraproduktiv, sagt Matthias von Randow, Hauptgeschäftsführer des Bundesverbands der Deutschen Luftverkehrswirtschaft (BDL). Beispielsweise bei Problemen am Flugzeug könnten die Airlines nicht innerhalb von drei Stunden eine Fehleranalyse erstellen, ein Ersatzflugzeug beschaffen und die Passagiere mit einer neuen Maschine und vielleicht auch einer frischen Crew ans Ziel bringen.

Die Luftfahrtbranche sagt: Auch die Verbraucher würden profitieren

Sobald man aber über die drei Stunden komme und ohnehin Kompensation zahlen müsse, hätten die Airlines wenig Anreiz, zusätzlich eine teure Ersatzmaschine zu organisieren. Passagiere müssten dann gegebenenfalls lange Verspätungen einplanen. „Bei einer Fünf-Stunden-Grenze würde das nicht passieren“, meint Randow.

Eine Lockerung des Zeitrahmens liege daher vor allem auch im Interesse der Kunden. „Die Passagiere wollen an ihr Ziel kommen, die Entschädigungen sind zweitrangig“, meint der BDL-Manager. Doch wenn es um die Bilanzen der Unternehmen geht, sind die Zahlungen keinesfalls zweitrangig. Rechnet man alle Ersatzleistungen und Kompensationen zusammen, die Airlines 2019 in der EU gezahlt haben, kommt man auf acht Milliarden Euro. Jetzt, wo viele zu kämpfen haben, fällt das durchaus ins Gewicht.

„Die Politik steht unter dem Druck, den Fluggesellschaften zu helfen“, glaubt Markus Tressel, tourismuspolitischer Sprecher der Grünen-Bundestagsfraktion. Die Hoffnungen der Branche richten sich vor allem auf das Bundesverkehrsministerium. Von Randow war dort Staatssekretär, bevor er zu Air Berlin und dann zum Verband wechselte. Der BDL setzt darauf, dass Verkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) die deutsche Ratspräsidentschaft in der zweiten Jahreshälfte nutzt, um die Reform der Fahrgastrechte unter Dach und Fach zu bringen.

Doch ganz so einfach ist das nicht. Denn Scheuer muss sich schon mit dem Untersuchungsausschuss zur Maut herumschlagen. Ob er auch noch Verantwortung dafür übernehmen will, Verbraucherrechte einzuschränken, ist fraglich. Auf Tagesspiegel-Anfrage heißt es im Ministerium nur, die Bundesregierung strebe „ein ausgewogenes Verhältnis zwischen den berechtigten Interessen der Luftverkehrswirtschaft und einem hohen Verbraucherschutzniveau“ an. Im Bundesjustizministerium, das ebenfalls beteiligt ist, sieht man die Pläne ohnedies kritisch und wäre wohl froh, wenn die Verordnung einfach so bleibt wie sie ist.

Sieben Jahre lag die Reform in der Schublade, der Brexit macht den Weg frei

Dass es anders kommen könnte, liegt am Brexit. Spanier und Briten hatten die Neufassung der Verordnung jahrelang blockiert, weil sie sich nicht über den Status von Gibraltar einigen konnten. Mit dem Austritt der Briten ist das Problem gelöst. Es spricht einiges dafür, dass die schwarz-roten Koalitionäre eine solche Wendung nicht im Blick hatten als sie den Koalitionsvertrag unterschrieben. „Völlig sinnfrei und unnötig“ sei das gewesen, sagt Grünen-Politiker Tressel. Er hofft auf eine Korrektur: „Es wäre ein schlechtes Signal, erreichte Verbraucherschutzstandards zurückzudrehen“.


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